Solche Bewegungsabläufe kommen nicht vor und können somit auch nicht erlernt werden. Die Individualität, die Kreativität und die Entwicklung im technischen Bereich bleiben bei einem Training, welches ausschließlich auf ein einziges taktisches System ausgerichtet ist, auf der Strecke. Verstehen wir uns nicht falsch: Natürlich ist Ballbesitzspiel etwas wunderbares und genau da wollen wir eines Tages hin. Aber wir finden, dass in der E- oder D-Jugend bei einer reinen "Ballbesitzausbildung" die technische Entwicklung nicht optimal verläuft.
Schaut man bei den Profis genau hin, sind schnelle Pässe und Stellungsspiel übrigens nur die Grundlage für das taktisch anspruchsvolle Spiel. Ein Phillip Lahm beispielsweise benutzt permanent das Abkappen und Eindrehen, weil es megaeffektiv ist und neue Räume für weiter, schnelle und zielgerichtete Pässe eröffnet. Solche Bewegungen muss ein Trainer den Kindern jedoch erstmal beibringen. Sie müssen erst das gesamte technische Repertoire beherrschen, bevor sie dann von einem bestimmten Spielsystem taktisch reglementiert werden. Es ist wie beim Klavierunterreicht. Da fange ich ja auch erst einmal mit Fingerübungen an und nicht damit, eine Sinfonie einzustudieren. Viele E-Jugend-Trainer machen den Fehler, dass sie ein solches modernes Spielsystem sehen und versuchen, es für ihre Mannschaft zu übernehmen. Sie trainieren schnelles Passspiel. Kaum einer dribbelt mehr, auch weil es ihm häufig untersagt wird. Kaum einer geht ins 1 gegen 1 und probiert mal was aus. Und das, obwohl selbst der DFB dies wieder mehr einfordert. Dabei wäre es in diesem Ausbildungsabschnitt viel besser, verspieltes Spielen mit den Kindern zu trainieren und Platz für Kreativität zu lassen.
Oft hört man auch, dass Lizenzvereine darauf drängen, dass die Jugendspieler bis in die unteren Jugendmannschaften hinein das taktische System der Herrenmannschaft übernehmen, um sich später problemlos in das taktische System der Herren einfinden zu können. Ein großer Fehler. Warum bringt man Kindern nur ein taktisches System bei? Warum schult man sie nicht in unterschiedlichen taktischen Systemen, so dass sie die Stärken und Schwächen der Spielsysteme am eigenen Leib erfahren und hinterfragen können? Auf diese Weise entwickelt sich die Spielintelligenz dauerhaft viel stärker, als wenn ich die Kinder ausschließlich in ein einziges taktisches System presse.
Zudem ist es wissenschaftlich längst belegt, dass sich mit einem differenziellen Training langfristig stets bessere Ergebnisse erzielen lassen, als mit einem monotonen. In einer Studie, in der die Treffergenauigkeit von Fußballern beim Torschuss nach einem monotonen und einem differenziellen Training untersucht wurde, schnitten die Fußballer, die differenziell trainierten signifikant besser ab. Mit anderen Worten: mit einer Gruppe wurde wochenlang ausschließlich Flachschüsse ins rechte Eck trainiert. Die zweite Gruppe sollte auf Kommando mal links unten, mal rechts oben oder mittig treffen müssen. In einem Wettbewerb Wer trifft öfter ins rechte untere Eck verlor die monotone Gruppe deutlich, obwohl die Spieler im Monoton-Training zuvor wesentlich öfter aufs rechte untere Eck geschossen haben als die differenziell trainierten. Der junge Fußballer braucht natürlich viele Wiederholungszahlen einer Technik, aber er erlernt diese durch immer neue Herausforderungen, durch immer veränderte Bedingungen besser.
Hinzu kommt, dass sich der Fußball ständig weiter entwickelt. Was nützt es, Kinder nach einem heute modernen System auszubilden, das in zehn Jahren vielleicht schon wieder längst überholt ist? Wir brauchen intelligente Fußballer, die mit dem gesamten fußballerischen Handwerk vertraut sind. Die in der Lage sind, innerhalb kurzer Zeit, jedes gewünschte System einzustudieren und die auf dem Platz die Spielweise des Gegners lesen und richtig darauf reagieren können. Weil sie eben nicht nur mit einem, sondern mit verschiedenen Spielsystemen vertraut sind. Genau darauf muss unsere Ausbildung junger Fußballer abzielen. Wir müssen die jungen Spieler zukunftsfähig machen, denn die Entwicklung des Spiels wird weiter von Taktikfüchsen vorangetrieben werden.
Die Entwicklung der letzten zwei Jahre hat gezeigt, dass der moderne Fußball taktisch immer dynamischer wird. Gute Mannschaften laufen längst nicht mehr mit einem starren 4-3-3 oder 4-4-2- aufs Feld und halten 90 Minuten daran fest. Nein, sie justieren ihr Spielsystem ständig neu. Einerseits, um sich auf den Gegner einzustellen, der sich taktisch vielleicht anders verhält, als im Vorfeld erwartet, oder aber um für den Gegner weniger berechenbar zu sein und ihn so gar nicht erst ins Spiel kommen zu lassen. Spielerische Dominanz definiert sich heutzutage längst nicht mehr über die Körperlichkeit, sondern vor allem über die taktischen Fähigkeiten einer Mannschaft.
Doch wie bringen wir Kindern nun taktischen Fußball bei, ohne natürlich die Grenzertragslehre außer Acht zu lassen?
Das möchten wir Euch dann im zweiten Teil unseres Artikels näher zeigen. Das Schlagwort dazu lautet Provokationsregeln...
Eine gute Fußballzeit!
Euer Michi